Carsten Reichert

Dacia: Griff nach der Freiheit

Gestern Abend ist mir das erste Mal ein Werbespot des rumänischen Autoproduzenten Dacia (Renault-Gruppe) aufgefallen:

Bereits 2009 hatte der Konzern mit einem Spot geworben, der das weltpolitisch-sozialistische Who-is-Who (Che Guevara, Karl Marx, etc.) aufgeboten hatte, um die MCV-Serie zu promoten. Und heute: Ein Double von Günter Schabowski, 1989 Sekretär des SED-Zentralkomitees für Informationswesen (etwa vergleichbar mit der Funktion eines Regierungssprechers), gibt auf einer Pressekonferenz bekannt, dass Dacia auch weiterhin die günstigsten Autos vertreiben wird. In der Realität läutete diese Pressekonferenz die Maueröffnung und damit das Ende der DDR ein.

Deutsche Zeitgeschichte zweckentfremdet

Bleibt die Frage, warum Dacia die deutsche Geschichte für seine Zwecke verwendet. Was treibt ein Unternehmen dazu, sich der Vergangenheit eines Staates zu bedienen, in dem man 10-15 Jahre auf einen Trabant oder Wartburg warten musste? Wieso wird eine Situation konstruiert, an die heute nur noch ein entrücktes Kunstwerk im Bundesministerium der Justiz erinnert? Diese Werbeironie versteht nicht jeder – positive Werbung sieht wohl anders aus…

Dacia „SED-Manier“ vorwerfen zu wollen, greift dabei sicherlich zu kurz. Man versteht sich mit Sicherheit nicht als volkseigener Betrieb, sondern wird auf Gewinnmaximierung ausgerichtet sein (sonst wäre Renault wohl nicht als Mehrheitseigner eingestiegen).

Wer ist Adressat des Werbeclips?

Der Spot ist mit Liebe zum Detail entstanden. Der „Sender“ ist MCV, Atmosphäre und Design des Veranstaltungssaals, Dialoge nach Original-Protokoll („Dacia hat nochmals die Preise gesenkt.“ – „Wann tritt das in Kraft?“ – „Nach meiner Kenntnis ist das sofort…unverzüglich!“) – der Clip ist wirklich für ästhetische Konsumenten produziert. Diese gehören aber mit Sicherheit nicht in den Dacia-Kundenkreis. Oder richtet sich diese Werbung an ehemalige DDR-Bürger. Vielleicht – allerdings machen diese wohl auch nicht den Löwenanteil der potentiellen Kunden aus.

Ich behaupte, dass die Werbemacher in diesem Spot auf den Freiheitsbegriff anspielen. Schabowski machte möglich, wovon viele Menschen in der DDR geträumt haben: persönliche Freizügigkeit. Dieses Gefühl will der Konzern mit seiner Marke vermitteln. Inwiefern ihm das allerdings im Kontrast zu anderen Berichterstattungen und Produkttests (z.B. durch Auto, Motor und Sport) gelingt, das müssen die Absatzzahlen im ersten Quartal zeigen.

Biographische Distanz als Problem

Mit etwas historischem Hintergrundwissen kann dieser Werbespot also analysiert werden. Was aber, wenn diese Basics fehlen? Dacia produziert im unteren Preissegment und ist damit unter anderem ein Einsteigerauto für jüngere Generationen. Die Pressekonferenz und ihre Geschichte ist aber nunmehr 20 Jahre her – und damit weniger präsent im kollektiven Gedächtnis unserer Jugend. Der Werberuf misslingt aufgrund der biographischen Distanz zum Geschehen.

Chance für die Schule

Hier kann Schule ansetzten. Es ist bekannt, dass mit zunehmender Diskrepanz zwischen eigener Biographie und vergangener Geschichte Verständnisprobleme einhergehen. Warum also nicht, auch um der vielgeforderten Aktualität wegen, den Dacia-Clip in den Unterricht, z.B. im Fach Geschichte, einfließen lassen. Freilich geht es nicht darum, mündige Schüler zu konformen Dacia-Käufern umzuerziehen. Sehr wohl ist es aber Aufgabe der Schule, historisches Bewusstsein zu vermitteln und Medienkompetenz zu schulen. Dafür eignen sich Werbeclips schon wegen ihrer relativen Kürze besonders. Im Vergleich mit den Original-Aufnahmen der Pressekonferenz können Schüler hier gruppenweise konstrastiv arbeiten und sich der Mentalitätsgeschichte von 1989 und heute handlungsorientiert nähern. Und obendrein vermittelt Geschichtsunterricht dann integrativ auch wesentliche Merkmal moderner Werbung (vgl. Frederking/ Krommer/ Maiwald 2008, 155):

  • Dominanz visueller gegenüber sprachlichen Anteilen (es ist nämlich völlig unerheblich, was genau das Schabowski-Double sagt)
  • Verarbeitung kulturell eingespielter Motive, Symbole, Erzählungen und Mythen (gerade im Jubiläumsjahr zum Mauerfall sind die Originalbilder wieder allgegenwärtig geworden)
  • Dominanz der Ästhetik (vgl. die bereits angesprochene Ästhetik)
  • Grenzverwischung im medialen Angebot und Einflechtung in das Wahrnehmungsfeld (nur wer genau hinsieht, merkt, dass es sich nicht um „echte Geschichte“ handelt)

Für mich ein durchaus sehr reizvolles Unterfangen!

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