Carsten Reichert

„Flüchtlinge“ – Gedanken zum „Wort des Jahres“

Gestern wurde das neue „Wort des Jahres“ verkündet. Nach „Grexit“ und „Je suis Charlie“ hat sich bei der Gesellschaft für Deutsche Sprache der Begriff „Flüchtling“ durchgesetzt.

Auch das Main-Echo hat sich dieser Wahl heute auf Seite 1 gewidmet. Zunächst einmal: Ich mag diese Begriffe-Prämierung nicht, ich mag auch nicht die Definition von Kategorien, die damit oft verbunden ist. Mir ist die Individualität der Menschen statt seltsamer Generalisierungen wichtig. Und wenn man doch einen „Sammelbegriff“ braucht, dann doch bitte einen anderen. Welchen? Den habe ich heute in einem Leserbrief an das Main-Echo beschrieben.

„Flüchtlinge“ ist also das neue „Wort des Jahres“. Und Stefan Reis merkt an, dass dieses „weltweit von nachrangiger Bedeutung“ sei. Mag sein. Umso mehr hat es vielleicht für den Diskurs in den deutschsprachigen Ländern Wichtigkeit.

Von Ludwig Wittgenstein stammt der Aphorismus: „Sprache schafft Wirklichkeit“ – und damit ist schon viel gesagt. Wenn wir von „Asylanten“, „Zuwanderer“ oder „Migranten“ sprechen – schaffen wir damit nicht Realitäten, fokussieren wir damit nicht bereits unsere Wahrnehmung auf einen Teilaspekt menschlichen Seins, blenden wir damit nicht sofort den Menschen in seiner Gesamtheit aus? Welches Wissen und welche Fakten transportieren wir damit? Wer spricht mit diesen Worten, wer wird gehört? Je nachdem, wie wir uns ausdrücken, erzeugen wir unterschiedliche Bilder bei unserem Gegenüber. Oft sind wir uns der Bilder, die unsere Sprache transportiert, nicht bewusst und reproduzieren so ungewollt stereotype Ansichten.

Als wir gemeinsam mit dem Bezirksjugendring Oberbayern eine Arbeitshilfe zum Thema „Auf der Flucht“ für Ehrenamtliche in der Jugendarbeit entwickelt haben, haben wir bewusst viel Zeit auf die Suche nach der richtigen Bezeichnung verwendet. Wir sprechen seitdem von „Menschen mit Fluchterfahrung“. Warum? Die Bezeichnung „Flüchtling“ reduziert den damit beschriebenen Personenkreis auf deren Fluchtgeschichte. Wir wollen im Kontrast hervorheben, dass diese genauso Menschen mit sehr unterschiedlichen individuellen Geschichte, Bedürfnissen, Wünschen und Träumen sind.

Man mag uns überbordene „political correctness“ oder realitätsfernes „Gutmenschentum“ vorwerfen. Damit können wir umgehen, verstehen wir doch – wie oben beschrieben – den dahinter stehenden sprachlichen Mechanismus. Wir glauben, dass wir mit unserer Begrifflichkeit den Horizont weiten. Oder noch einmal mit Wittgenstein gesprochen: „Die Grenzen meiner Sprache, sind die Grenzen meiner Welt.“

Carsten Reichert
Vorsitzender des Bezirksjugendrings Unterfranken

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