Carsten Reichert

Lyrik nervt? Lyrik wird Film! Ergebnisse der Projektwoche

An unserer Schule findet jährlich in der 11. Jahrgangsstufe vor den Herbstferien eine Projektwoche statt. Die Schüler*innen des Jahrgangs können dafür aus verschiedenen Projekten wählen. Ich wollte heuer mal wieder Gedichte verfilmen lassen – denn was gibt es Schöneres, klassischen Fachunterrichts mit produktiver Medienarbeit (hier: Erstellung von Filmclips) zu verbinden…

„Lyrik nervt!“ betitelt Hans Magnus Enzensberger bekanntermaßen unter Pseudonym seine Abhandlung über Gedichte. Ähnliche Aussagen treffen immer wieder auch Schüler*innen, wenn sie mit poetischen Texten im Unterricht konfrontiert werden. Aufgrund der bildhaften Sprache, verschlüsselter epochenspezifischer Motive und verdichteter Aussagen fällt es ihnen häufig schwer, dieser Textgattung etwas Positives abzugewinnen. Dem gegenüber steht eine hohe Affinität zu „lyrics“, also den Texten (moderner) Musik. Trotz der abnehmenden Bedeutung von Musiksendern wie Viva und MTV konsumieren Jugendliche Musikvideos auf YouTube und anderen Videoportalen. Gedichte sind also vornehmlich im Kontext Schule ein Problem für junge Menschen, nicht aber im privaten Bereich – und entfalten ihre Wirkung nicht zuletzt durch filmische Umsetzungen. Dementsprechend sollten am Ende des Projekts verschiedene Verfilmungen literarischer Gedichte entstanden sein.

Die Umsetzung des Projekts erfolgt in verschiedenen Bausteinen:

  • Baustein 1: Reflexion eigener Erfahrungen mit Lyrik, Erarbeitung gemeinsamer Grundsätze für die Textinterpretation, Verfassen eigener Gedichte
  • Baustein 2: Rezeption und Analyse von Lyrikverfilmungen am Beispiel des Spielfilms „Poem“ von Ralf Schmerberg; Diskussion alternativer Umsetzungsideen
  • Baustein 3: Themenfindung und Recherche/ Auswahl eigener Gedichte für eine filmische Umsetzung, Formulieren erster Umsetzungsideen und Diskussion/ Verteidigung in der Gruppe
  • Baustein 4: Geschichte des Films – Vorbedingungen und Strukturen, Bedeutung filmischer Mittel, Selbsterprobung (in Kooperation mit dem Deutschen Filmmuseum Frankfurt)
  • Baustein 5: Einführung in filmtechnische Mittel (u.a. Kameraeinstellungen und -perspektiven) und Persönlichkeitsrechte (Recht am eigenen Bild), Entwicklung von Storyboard und Drehbuch für die eigene Lyrikverfilmung, Drehen eigener Sequenzen mithilfe von Tablets (iPads)
  • Baustein 6: Postproduktion; Einführung in Fragen des Urheberrechts, Überblick über unterschiedliche Schnitt- und Montagetechniken (bzw. deren Wirkung), Schneiden der eigenen Filme (inkl. Nachvertonung) mithilfe von Tablets (iPads)
  • Baustein 7: Sichtung der Lyrikverfilmungen der anderen Gruppen, Feedback geben und nehmen, Upload der Verfilmungen auf Youtube; Reflexion der Projektwoche vor dem Hintergrund neuer Erfahrungen mit Lyrik und Medien

 

Dank der ausreichend verfügbaren Zeit und der hohen Motivation der Schüler*innen konnten sehr ansprechende Videos gedreht werden. Alle waren höchst kreativ, haben sich gegenseitig unterstützt und gemeinsam Probleme (inhaltlich wie technisch) gelöst. Man macht sich am besten selbst ein Bild:

Auch die Rückmeldungen der Schüler*innen sprechen für sich, wie dieser Zusammenschnitt beweist:

Wie bereits angedeutet, war es im Rahmen des Projekts sehr positiv spürbar, wie selbstständig und organisiert die Lernenden ihre Ideen arrangiert und umgesetzt haben. Die Schüler*innen haben mit großem Einsatz gearbeitet und waren mit Freude bei der Sache. Dies ist angesichts der Tatsache,

  • dass das Thema Lyrik eigentlich keine Begeisterungsstürme auslöst,
  • dass für die Ableistung des Projekts keine Zensuren gegeben werden,
  • dass die Projektwoche an eine intensive Klausurenphase anschließt,
  • dass die nahenden Herbstferien eher Urlaubssehnsucht fördern,

nicht selbstverständlich.

Hervorzuheben ist in jedem Fall der medienpädagogische Lernzuwachs. Betrachtet man, wie die Lernenden ihre Kameraeinstellungen gestaltet haben, so wird deutlich, dass sie diese bewusst gestaltet haben – und nicht einfach nur mit der Kamera „draufgehalten“ haben. In der Betrachtung der angefertigten Storyboards und Drehbücher konnte man zudem feststellen, dass die Schüler*innen damit eine konkrete Wirkungsabsicht verbunden haben.

Natürlich gab es auch negative Aspekte, die v.a. technischer Natur waren. Trotz des Einsatzes der Tablets, die grundsätzlich eine Vereinfachung der Arbeit mit Medien im Unterricht darstellt, gab es Hürden, die den Arbeitsprozess der Schüler*innen verlangsamte oder ganz ausbremste. So wurden bei etlichen Geräten die Speicherkapazitäten durch das Drehen vielfältigster Sequenzen ausgereizt, so dass das Zusammenschneiden auf anderen Geräten vollzogen werden musste, um keine Takes löschen zu müssen. Bei der Vertonung zeigte sich, dass die Akustik der eingebauten Mikrofone nicht unbedingt für die Aufnahme von Sprache und Umweltgeräuschen eignet. Während des Schneideprozesses konnten trotz anderer Versprechungen nicht alle Ideen technisch durch die verwendeten Apps umgesetzt werden, was die Motivation, daran und damit weiterzuarbeiten deutlich dämpfte. Und nicht zuletzt gab es unerklärliche Qualitätseinbußen beim Upload der Clips auf eine Videoplattform. Die Probleme ließen sich schlussendlich fast vollständig beseitigen, aber dennoch wurde deutlich, dass neue Medien keine unumstößlichen Heilsbringer für den Unterricht darstellen können.

Aus deutschunterrichtlicher Perspektive muss festgehalten werden, dass die Arbeit mit und an Lyrikverfilmungen zwar einen hohen Motivationsgrad besitzt, jedoch didaktisch nur schwer an das anknüpft, was eigentlich gefordert ist. Natürlich stellt jede entstandene Lyrikverfilmung eine Interpretation des Ursprungstextes dar – der Schritt der formalen und stilistischen Analyse und die inhaltliche oder epochenspezifische Einordnung entfällt dabei jedoch. Vor dem Hintergrund, dass in Leistungserhebungen vorwiegend ein analytischer-deduktiven Weise gefordert werden, ist ein Projekt wie dieses im „normalen“ unterrichtlichen Alltag nur schwer einsetzbar. Hier würde ich als Projektleiter bei einem zukünftigen Projekt mehr versuchen, eine Brücke zu schlagen.

Unterm Strich kann man aber festhalten: Einer Wiederholung steht nichts im Wege. Es wäre sogar wünschenswert, wenn sich mehr Kolleg*innen solche Angebote machen. Jenseits der Projektwoche kann ein solches Projekt nämlich auch Eingang in den normalen Fachunterricht finden, etwa im Bereich des Films bei der Erstellung von Erklärfilmen. Aber es braucht eben auch Zeit und Raum für solche Aktivitäten. Zum anderen ist eine Schulung der Kolleg*innen notwendig, um Berührungsängste mit neuen Medien abzubauen bzw. Motivation zu erzeugen. Dazu braucht es auch einen Paradigmenwechsel in der vermittelten Lehrendenrolle. Wir können in medialen Kontext eigentlich nur Mentoren und Coachs sein und müssen es auch aushalten, dass Lernende vielleicht mehr Wissen und Kompetenzen haben als wir selbst.

Man kann aber auch festhalten, dass aus einem Medien-Projekt wie diesem Rückschlüsse auf den „normalen Unterricht“ gezogen werden können und auch müssen (vgl. die O-Töne der Schüler*innen:

  • Schüler*innen schätzen und brauchen selbstorganisiertes und -gesteuertes Lernen.
  • Wir benötigen eine andere Fehlerkultur und den Mut zu „trial und error“-Phasen.
  • Wir müssen neue Medien einsetzen, um Unterrichtsprozesse zu vereinfachen und zu individualisieren.

Denn: Was hindert uns eigentlich daran, traditionelle Themen im Unterricht auch einmal „gegen den Strich“ bürsten?

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